Möglichkeiten für einen gesunden Abschied – die Totenwache
Abschiednehmen von Verstorbenen ist ein sehr persönlicher Prozess. So manche vergessene Tradition kann zu einem gesunden Abschied verhelfen, z.B. die Totenwache.
In meiner jahrelangen Tätigkeit im Hospiz habe ich viele Sterbende und deren Angehörige begleitet. Dabei konnte ich oft feststellen, dass große Unsicherheit herrscht, wie die stille, kostbare Zeit nach dem letzten Atemzug gestaltet werden kann. Heute möchte ich Dir gerne einige meiner Erfahrungen erzählen. Ein Erlebnis ist mir besonders in Erinnerung geblieben und passt zu unserem heutigen Thema der Totenwache.
Ein Ritual, um Abschied zu nehmen
Im Hospiz ist es so: Wenn jemand verstirbt, darf der Leichnam 36 Stunden im Zimmer verbleiben, bevor er von Gesetz wegen abgeholt werden muss. Eines Tages verstarb ein älterer Herr nach einem sehr kurzen Aufenthalt: einen Tag und eine Nacht, wir konnten uns kaum kennenlernen. Nach jedem Todesfall waschen wir den Leichnam noch einmal, weniger aus hygienischen Gründen, vielmehr als Ritual. Zum Beispiel, um die Anstrengung des Sterbens wie Staub und Schweiß nach einem langen Arbeitstag abzuwaschen, um den Körper, der ein Leben lang gedient hat, mit Respekt zu verabschieden und auch um dieses Leben in diesem Körper symbolisch abzuschließen, um ihn für die weitere Reise sinnbildlich zu erfrischen … Die Aufzählung der Assoziationen für dieses Ritual kannst Du in Gedanken gerne weiterführen, welche fallen Dir ein?
Wir boten dem Sohn des älteren Herrn also an, seinen Vater gemeinsam mit uns ein letztes Mal zu waschen. Er stimmte zu, und ich war beeindruckt von der großen Hingabe, mit der der junge Mann seinen Vater wusch. Symbolisch wurden alle Hindernisse weggespült und das Schöne noch einmal zum Glänzen gebracht. Es war ein bewegendes Ritual, bei dem der Sohn Abschied nehmen konnte. Durch die Berührung konnte er wirklich begreifen, dass es sich um einen leblosen Körper handelt, um die Hülle, die nun von seinem Vater zurückgelassen wurde. Nach der Reinigung haben wir den Vater noch schön mit seiner Lieblingskleidung eingekleidet und nach kurzer Zeit verließ der Sohn das Haus.
Unerwartet kehrte er am Abend zurück und wollte noch eine Weile bei seinem Vater sitzen. Aus dieser Weile wurden viele, viele Stunden – bis spät in die Nacht hinein, so wie mir die Kollegen am nächsten Morgen erzählten. Er blieb bei seinem Vater, vielleicht in Gedanken, vielleicht im wortlosen Gespräch, wo es vieles zu erinnern, auszusprechen und vielleicht auch noch zu klären oder zu danken gab.
Am nächsten Morgen, als der Vater vom Bestatter abgeholt wurde, kam der Sohn auch für diesen nächsten Schritt auf der Reise hinzu. Danach hatten wir noch ein kurzes Gespräch. Er betonte, wie wichtig diese Stunden waren, einfach nur da zu sein. Er konnte sehen, begreifen, erleben und damit realisieren, dass der leblose Körper zurückblieb, während der Geist, die Seele, die Lebensenergie oder welche Begriffe Du dafür verwendest, diesen alten, verbrauchten Körper verlassen hatte. Er konnte in dieser Zeit den Beginn für eine „neue“ Form der Beziehung zu einem ihm wichtigen Menschen legen, denn der Tod trennt Materie aber keine Beziehungen.
Eine Totenwache kann sehr lebendig sein
Dieser junge Mann hat unbeabsichtigt gleich zwei Rituale für sich genutzt, die früher üblich waren und wieder mehr Aufmerksamkeit verdienen. Wer es sich zutraut, kann im Hospiz oder beim Bestatter bei der Waschung dabei sein oder sie selbst durchführen. Das ist möglich, meist muss man nur fragen oder auch mit sanftem Druck darauf bestehen. Wurde zu Hause gestorben, ist die Waschung auch dort möglich. Die Waschung kann schon Teil der Totenwache sein, aber auch zeitlich getrennt davon betrachtet werden.
Hier konzentriere ich mich jetzt mehr auf die eigentliche Totenwache. Sie kann sowohl im Hospiz stattfinden, wenn jemand dort verstorben ist, als auch zu Hause. Bei Personen, die im Krankenhaus versterben, kann man mit dem Bestatter sprechen und den Leichnam beispielsweise zu Hause in vertrauter Umgebung aufbahren lassen oder in anderen geeigneten Räumlichkeiten, die ein guter Bestatter zur Verfügung stellen kann. Dort können Familie und Freunde für einige Stunden oder Tage die Totenwache abhalten.
Meine Anregungen beziehen sich auf die Situation, dass keine wie auch immer gearteten religiösen Vorschriften zur Anwendung kommen sollen. Wir reden also von einer individuellen Totenwache. Es gibt nichts Besonderes zu tun oder zu lassen, die Gestaltung sollte von Respekt und Achtsamkeit geprägt sein. Das bedeutet nicht, dass man einfach nur still und trübselig neben dem Verstorbenen sitzt. Oft ergeben sich intensive Gespräche, es wird Musik gespielt oder gemeinsam gegessen. Es entsteht ein lebendiger, oft auch freudvoller Abschiedsprozess, bei dem Lachen und Weinen sich abwechseln können. Eine Totenwache ist Abschied, ist das Begreifen der Realität, dass jemand gegangen ist und bildet den Einstieg in eine neue Phase der Beziehung zu dieser Person.
Hast Du schon einmal zu Lebzeiten darüber nachgedacht, ob Du Dir für Dich oder für nahestehende Menschen eine Totenwache als Abschiedsritual vorstellen kannst? Denn Abschied nehmen wird früher oder später auf uns alle zukommen. Vielleicht ist die Totenwache dann eine Option, den Abschied zu gestalten. Sie muss nicht im Voraus geplant werden. Ob und wie sie stattfindet, können die Hinterbliebenen entscheiden, wenn es so weit ist. Und auch dabei unterstützen Sterbeammen und Sterbegefährten. Sie sind darin erfahren, traditionelle Rituale zu beleben oder unserer Zeit angemessene neue Rituale zu gestalten.